fredag 1 juli 2016

Big Putin is watching you


29. Juni 2016

Ein neues russisches Gesetz soll den Anti-Terror-Kampf stärken. Nebenbei erlaubt es auch die Massenüberwachung durch den Geheimdienst. Experten zweifeln, ob sich das Gesetz technisch umsetzen läßt.

Ein neues Gesetz soll die Menschen in Rußland zu gläsernen Bürgern machen – Präsident Wladimir Putin muß es nur noch unterzeichnen.

Edward Snowden, der ehemalige Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA, ist aus einem Land geflohen, das er wegen seiner Massenüberwachung kritisierte. Nun wird ironischerweise Rußland, das Land, das dem Whistleblower Asyl gewährte, eine Massenüberwachung einführen, die – sollte sie vollständig umgesetzt werden – vergleichbare Programme anderer Staaten weit übertrifft.

Snowden kritisierte am Wochenende das russische "Big-Brother-Gesetz" per Twitter als eine "nicht umsetzbare, nicht zu rechtfertigende Verletzung der Rechte", das Gesetz dürfe "nie unterschrieben werden".

Einen Ratschlag, den die russischen Behörden geflissentlich ignorierten: Der Föderationsrat, die obere Kammer des russischen Parlaments, stimmte am Mittwoch für das entsprechende Gesetzespaket. Die untere Kammer hatte es bereits am vergangenen Freitag verabschiedet, jetzt muß das Gesetz noch von Rußlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnet werden.

Gläserne Bürger in einem Überwachungsstaat

Formell geht es um die Verschärfung von Anti-Terror-Maßnahmen. Doch die neuen Regeln könnten einen Überwachungsstaat erschaffen, in dem jeder zum gläsernen Bürger wird: Das Gesetz verpflichtet russische Mobilfunkanbieter und Internet-Provider dazu, die Inhalte aller Telefonate sowie alle Nachrichten, Bilder und Videos, die Nutzer austauschen, sechs Monate lang zu speichern.

Dem russischen Geheimdienst müssen sie jederzeit Zugriff darauf gewähren. Metadaten sollen drei Jahre lang gespeichert werden, der Geheimdienst soll außerdem Zugang zu verschlüsselter Kommunikation erhalten. IT-Firmen und Experten zweifeln jedoch daran, daß dieses Gesetz technisch und wirtschaftlich überhaupt umsetzbar sei.

Die Verschärfung der Anti-Terror-Maßnahmen erfolgte in den letzten Arbeitstagen des aktuellen Parlaments, die Verabschiedung verlief dementsprechend hastig. Kurz vor der zweiten und dritten Lesung wurden noch höchst umstrittene Punkte aus dem Entwurf entfernt, die in einigen Fällen den Entzug der russischen Staatsbürgerschaft und Ausreiseverbote vorsahen.

Menschenrechtler kritisieren weitere Aspekte des Pakets. So werden Personen, die von der Vorbereitung bestimmter Verbrechen wissen, aber die Behörden nicht informieren – etwa bei einem Terroranschlag oder einem "bewaffneten Aufstand" – mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Für "Anstiftung" zu Massenunruhen wird eine Haftstrafe von fünf bis zehn Jahren eingeführt.

Das neue Gesetz sieht zudem verschärfte Strafen vor für extremistische Tätigkeiten und Rekrutierung vor. In der Vergangenheit nutzten russische Behörden die Anti-Extremismus-Gesetze bereits häufig, um nicht nur gegen Terroristen, sondern auch gegen Regimekritiker vorzugehen.

Mobilfunkanbieter fürchten Verluste über Jahre

Vor der Abstimmung hatten die vier größten Mobilfunkanbieter Rußlands einen gemeinsamen Brief an die Vorsitzende des Föderationsrates, Valentina Matwijenko, verfaßt, mit der Bitte, das Gesetz abzulehnen. Sie schätzten die Ausgaben für Bau und Instandhaltung von entsprechenden Datenzentren auf rund 30 Milliarden Euro.

Für die Mobilfunkanbieter würde das Verluste für mehrere Jahre bedeuten. Sie verweisen darauf, daß es in Rußland derzeit keine Technologie gibt, um Daten in diesem Umfang zu verwalten und in ihnen nach Informationen zu suchen.

Die entsprechende Software müßte bei ausländischen Herstellern eingekauft werden. Die Bedenken der Branche sind, daß Entwicklungen für mehrere Jahre gestoppt werden, die Tarife für die Nutzer steigen und dabei die Qualität sinke, sollten die Überwachungsmaßnahmen umgesetzt werden.

Die Gesetze seien "sinnlos und absolut nicht umsetzbar", sagte Andrej Soldatow, ein russischer Investigativjournalist und Experte für Geheimdienste und Überwachung. Als Hindernis nennt er etwa die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die in Nachrichtendiensten wie WhatsApp oder iMessage auf Apple-Geräten aktiv ist.

Dem neuen Gesetz zufolge müßten Betreiber solcher Messenger-Dienste dem russischen Staat Schlüssel geben, um die Nachrichten zu entziffern. Dazu sind sie aber bei einer Ende-zu-Ende-Verschüsselung rein technisch nicht in der Lage. "Theoretisch dürfen dann in Rußland gar keine iPhones benutzt werden", sagte Soldatow.

"Das Ziel ist, Internetunternehmen einzuschüchtern"

Pawel Durow, der russische Gründer des Messengers Telegram, erklärte bereits, dass er sich nicht ans neue Gesetz halten werde und die russischen Behörden keinen Zugang zu den verschlüsselten Nachrichten bekämen. Der russische Staat könne ihn kaum dazu zwingen, es sei denn, Telegram und ähnliche Messenger würden in Rußland komplett verboten.

Und sogar der russische Telekommunikationsminister Nikolai Nikiforow gibt zu, daß der Teil des Gesetzes, der die Verschlüsselung betrifft, schwer umzusetzen sei. Das Parlamentskomitee, das den Entwurf vorbereitet hat, habe sich nicht einmal die Position des Ministeriums angehört, kritisierte der Minister. "Es wird ernsthafte Fragen bei der konkreten Anwendung geben", sagte Nikiforow. Das Gesetz werde eine ganze Reihe von Zusatzanträgen brauchen.

Der Journalist Soldatow zweifelt daran, daß das Gesetz am Ende tatsächlich in Rußland umgesetzt wird: "Das Ziel ist, Internetunternehmen einzuschüchtern." Denn russische Mobilfunkanbieter und Internet-Provider kooperieren bereits jetzt schon mit dem Staat und müßten bereits seit Jahren dem Geheimdienst Zugang zu ihren Netzen gewähren. Das Ziel des Gesetzes seien also ausländische Unternehmen.

Stärkere Kontrolle von Facebook, Twitter und Google

Rußland versucht nicht zum ersten Mal, Unternehmen wie Facebook, Twitter oder Google stärker zu kontrollieren. Im vergangenen September trat ein Gesetz in Kraft, das IT-Firmen dazu verpflichtet, Daten russischer Staatsbürger auf Servern zu speichern, die sich physisch in Rußland befinden.

Diese Regeln waren praktisch nicht umsetzbar. Facebook und Twitter führten zwar Gespräche mit russischen Behörden, doch haben sie ihre Server bis jetzt nicht nach Rußland verlegt.

"Seit dem vergangenen Jahr verstößt Facebook faktisch gegen russisches Recht", sagte der Journalist Soldatow. Das könnte als Anlaß dienen, um die Arbeit des Unternehmens in Rußland zu stoppen: "Es wäre eine politische Entscheidung, Facebook in Rußland zu verbieten, doch bis jetzt ist niemand dazu bereit, sie zu treffen."