29. Juni 2016
Ein neues russisches
Gesetz soll den Anti-Terror-Kampf stärken. Nebenbei erlaubt es auch die
Massenüberwachung durch den Geheimdienst. Experten zweifeln, ob sich das Gesetz
technisch umsetzen läßt.
Ein neues Gesetz
soll die Menschen in Rußland zu gläsernen Bürgern machen – Präsident Wladimir
Putin muß es nur noch unterzeichnen.
Edward Snowden, der
ehemalige Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA, ist aus einem Land geflohen,
das er wegen seiner Massenüberwachung kritisierte. Nun wird ironischerweise Rußland,
das Land, das dem Whistleblower Asyl gewährte, eine Massenüberwachung
einführen, die – sollte sie vollständig umgesetzt werden – vergleichbare
Programme anderer Staaten weit übertrifft.
Snowden kritisierte am Wochenende das russische
"Big-Brother-Gesetz" per Twitter als eine "nicht umsetzbare,
nicht zu rechtfertigende Verletzung der Rechte", das Gesetz dürfe
"nie unterschrieben werden".
Einen Ratschlag, den
die russischen Behörden geflissentlich ignorierten: Der Föderationsrat, die obere
Kammer des russischen Parlaments, stimmte am Mittwoch für das entsprechende
Gesetzespaket. Die untere Kammer hatte es bereits am vergangenen Freitag
verabschiedet, jetzt muß das Gesetz noch von Rußlands Präsident Wladimir Putin
unterzeichnet werden.
Gläserne Bürger in
einem Überwachungsstaat
Formell geht es um
die Verschärfung von Anti-Terror-Maßnahmen. Doch die neuen Regeln könnten einen
Überwachungsstaat erschaffen, in dem jeder zum gläsernen Bürger wird: Das
Gesetz verpflichtet russische Mobilfunkanbieter und Internet-Provider dazu, die
Inhalte aller Telefonate sowie alle Nachrichten, Bilder und Videos, die Nutzer
austauschen, sechs Monate lang zu speichern.
Dem russischen
Geheimdienst müssen sie jederzeit Zugriff darauf gewähren. Metadaten sollen
drei Jahre lang gespeichert werden, der Geheimdienst soll außerdem Zugang zu
verschlüsselter Kommunikation erhalten. IT-Firmen und Experten zweifeln jedoch
daran, daß dieses Gesetz technisch und wirtschaftlich überhaupt umsetzbar sei.
Die Verschärfung der
Anti-Terror-Maßnahmen erfolgte in den letzten Arbeitstagen des aktuellen
Parlaments, die Verabschiedung verlief dementsprechend hastig. Kurz vor der
zweiten und dritten Lesung wurden noch höchst umstrittene Punkte aus dem
Entwurf entfernt, die in einigen Fällen den Entzug der russischen
Staatsbürgerschaft und Ausreiseverbote vorsahen.
Menschenrechtler
kritisieren weitere Aspekte des Pakets. So werden Personen, die von der
Vorbereitung bestimmter Verbrechen wissen, aber die Behörden nicht informieren
– etwa bei einem Terroranschlag oder einem "bewaffneten Aufstand" –
mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Für "Anstiftung" zu
Massenunruhen wird eine Haftstrafe von fünf bis zehn Jahren eingeführt.
Das neue Gesetz
sieht zudem verschärfte Strafen vor für extremistische Tätigkeiten und
Rekrutierung vor. In der Vergangenheit nutzten russische Behörden die
Anti-Extremismus-Gesetze bereits häufig, um nicht nur gegen Terroristen,
sondern auch gegen Regimekritiker vorzugehen.
Mobilfunkanbieter
fürchten Verluste über Jahre
Vor der Abstimmung
hatten die vier größten Mobilfunkanbieter Rußlands einen gemeinsamen Brief an
die Vorsitzende des Föderationsrates, Valentina Matwijenko, verfaßt, mit der
Bitte, das Gesetz abzulehnen. Sie schätzten die Ausgaben für Bau und
Instandhaltung von entsprechenden Datenzentren auf rund 30 Milliarden Euro.
Für die
Mobilfunkanbieter würde das Verluste für mehrere Jahre bedeuten. Sie verweisen
darauf, daß es in Rußland derzeit keine Technologie gibt, um Daten in diesem
Umfang zu verwalten und in ihnen nach Informationen zu suchen.
Die entsprechende
Software müßte bei ausländischen Herstellern eingekauft werden. Die Bedenken
der Branche sind, daß Entwicklungen für mehrere Jahre gestoppt werden, die
Tarife für die Nutzer steigen und dabei die Qualität sinke, sollten die
Überwachungsmaßnahmen umgesetzt werden.
Die Gesetze seien
"sinnlos und absolut nicht umsetzbar", sagte Andrej Soldatow, ein
russischer Investigativjournalist und Experte für Geheimdienste und
Überwachung. Als Hindernis nennt er etwa die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die
in Nachrichtendiensten wie WhatsApp oder iMessage auf
Apple-Geräten aktiv ist.
Dem neuen Gesetz
zufolge müßten Betreiber solcher Messenger-Dienste dem russischen Staat
Schlüssel geben, um die Nachrichten zu entziffern. Dazu sind sie aber bei einer
Ende-zu-Ende-Verschüsselung rein technisch nicht in der Lage. "Theoretisch
dürfen dann in Rußland gar keine iPhones benutzt werden", sagte Soldatow.
"Das Ziel ist,
Internetunternehmen einzuschüchtern"
Pawel Durow, der
russische Gründer des Messengers Telegram, erklärte bereits, dass er sich nicht
ans neue Gesetz halten werde und die russischen Behörden keinen Zugang zu den
verschlüsselten Nachrichten bekämen. Der russische Staat könne ihn kaum dazu
zwingen, es sei denn, Telegram und ähnliche Messenger würden in Rußland
komplett verboten.
Und sogar der
russische Telekommunikationsminister Nikolai Nikiforow gibt zu, daß der Teil
des Gesetzes, der die Verschlüsselung betrifft, schwer umzusetzen sei. Das
Parlamentskomitee, das den Entwurf vorbereitet hat, habe sich nicht einmal die
Position des Ministeriums angehört, kritisierte der Minister. "Es wird
ernsthafte Fragen bei der konkreten Anwendung geben", sagte Nikiforow. Das
Gesetz werde eine ganze Reihe von Zusatzanträgen brauchen.
Der Journalist
Soldatow zweifelt daran, daß das Gesetz am Ende tatsächlich in Rußland
umgesetzt wird: "Das Ziel ist, Internetunternehmen einzuschüchtern."
Denn russische Mobilfunkanbieter und Internet-Provider kooperieren bereits
jetzt schon mit dem Staat und müßten bereits seit Jahren dem Geheimdienst
Zugang zu ihren Netzen gewähren. Das Ziel des Gesetzes seien also ausländische
Unternehmen.
Stärkere Kontrolle
von Facebook, Twitter und Google
Rußland versucht
nicht zum ersten Mal, Unternehmen wie Facebook, Twitter oder Google stärker zu
kontrollieren. Im vergangenen September trat ein Gesetz in Kraft, das IT-Firmen
dazu verpflichtet, Daten russischer Staatsbürger auf Servern zu speichern, die
sich physisch in Rußland befinden.
Diese Regeln waren
praktisch nicht umsetzbar. Facebook und Twitter führten zwar Gespräche mit
russischen Behörden, doch haben sie ihre Server bis jetzt nicht nach Rußland
verlegt.
"Seit dem
vergangenen Jahr verstößt Facebook faktisch gegen russisches Recht", sagte
der Journalist Soldatow. Das könnte als Anlaß dienen, um die Arbeit des Unternehmens
in Rußland zu stoppen: "Es wäre eine politische Entscheidung, Facebook in
Rußland zu verbieten, doch bis jetzt ist niemand dazu bereit, sie zu
treffen."