21. November 2017
Ein sibirischer
Gymnasiast erntet nach seiner Rede zum Volkstrauertag im deutschen Bundestag
bodenlosen Haß für Mitleid mit deutschen Kriegsgefangenen.
Rußland hat einen
neuen Antihelden: Nikolai Desjatnitschenko, 16 Jahre, Schüler eines Gymnasiums
im sibirischen Nowy Urengoi. „Schweinehund!“ „Verräter!“ „Er leckt den Faschos
den Arsch!“ So dröhnt es in den Kommentaren zu dem 140 Sekunden langen Video.
Zu sehen ist da, wie der Junge am Volkstrauertag, 19. November, im deutschen
Bundestag über einen bei Stalingrad gefangenen Wehrmachtssoldaten berichtet,
dessen Grab in der Uralstadt Kopeisk er besucht hat.
„Ich sah die Gräber
unschuldig umgekommener Menschen, unter denen viele in Frieden leben und nicht
kämpfen wollten. Sie haben während des Kriegs unwahrscheinliche Mühen
durchlebt, über die mir auch mein Urgroßvater erzählte, der als Kommandeur
einer Schützenkompanie am Krieg teilnahm.“
Diese mitfühlenden
Worte lösten in Rußland einen Shitstorm aus. „Dieser umprogrammierte Schuljunge
stellt sich hin und rammt der Heimat das Messer in den Rücken“, wütet das
Massenblatt „Komsomolskaja Prawda“. Und der Nationalpopulist Wladimir
Schirinowski schimpfte: „Ein Bandit bemitleidet einen anderen.“ Sibirische
Regionalabgeordnete wie Duma-Parlamentarier haben Beschwerden bei
Staatsanwaltschaft und Geheimdienst eingereicht: wegen „Rechtfertigung des
Nazismus“.
Seine
Deutschlehrerin verteidigt ihn
Man kann die Worte
über Wehrmachtssoldaten als „unschuldig umgekommene Menschen“ durchaus
hinterfragen. In der Blutspur, die Hitlers Heer auf seinem Weg nach Stalingrad
hinterließ, bewahrten wohl nur wenige Landser ihre Unschuld. Und Nikolais
Mutter rechtfertigt ihn nun, sie habe lange mit ihrem Sohn an dem Bericht für
den Bundestag gearbeitet, aber am Ende habe er den Text auf zwei Minuten
zusammenkürzen müssen. „Es blieben nur Fragmente übrig, beim Lesen wird mir
jetzt selbst bange.“ Wohl auch angesichts derer, die auf Nikolais Seite im
Sozialnetz „VKontakte“ drohend fragen, ob er auswandern oder sich lieber
aufhängen wolle.
Seine
Deutschlehrerin Ljudmila Kononenko verteidigt ihn: „Er hat die Taten der
Faschisten mit keinem Wort entschuldigt.“ Auch der Historiker Wladimir Ryschkow
stellt sich hinter Nikolai: „Seine Hauptaussage war humanistisch und
pazifistisch: Krieg ist immer eine Katastrophe, in der einfache Menschen
leiden. Das Kesseltreiben gegen den Jungen zeigt nur, wie viel Faschismus, Haß
und Gewalt in unserer Gesellschaft noch stecken.“ Am Dienstag sagte dann auch
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, der Schüler habe nichts Böses gewollt. „Die
exaltierte Hetze, die jetzt stattfindet, ist völlig unverständlich.“ Nikolai
selbst schweigt noch.
Bleibt zu hoffen,
daß es ihm dort besser ergeht als dem 18-jährigen Wlad Kolesnikow aus Podolsk:
Nach einem Auftritt in seiner Berufsschule im Juni 2015 mit einem T-Shirt und dem
Spruch „Gebt die Krim zurück!“ darauf wurde er so drangsaliert und gehetzt, daß
er sich sechs Monate später umbrachte.
Stefan Scholl