15. November 2019
Die russische Armee
ist bekannt für ihre brutalen und schikanösen Initiationsriten. Einem Soldaten
wurde das offenbar zu viel. Acht Menschen mußten sterben. Nun diskutiert das Land
wieder einmal über die umstrittenen Praktiken beim Militär.
«Sie haben gesagt,
daß sie mich nach der Wachablösung absenken wollen. Ich sei eben der nächste»,
sagt Ramil Schamsutdinow kurz bevor er in Haft kommt. «Absenken». In der
Sprache der russischen Armee bedeutet das «vergewaltigen». Der 20-jährige
Rekrut wartet tatsächlich bis zur Wachablösung, lädt sein Maschinengewehr und
schießt. 58 Schüsse fallen in seiner Kaserne Nummer 54 160 bei Tschita in
Südostsibieren. Er tötet acht Kameraden und verletzt zwei schwer. Die Familie
des Rekruten spricht von «Dedowschtschina».
Die sogenannte «Herrschaft
der Großväter» ist ein noch aus der Zarenzeit übriggebliebener Initiationsritus
in der russischen Armee und bezeichnet die systematische Mißhandlung von
Soldaten. Sie weist Verbindungen zum russischen Straflagersystem auf und ist
ein Machtinstrument in Armee und Gefängnissen. Häufig konfiszieren die
Dienstälteren den privaten Besitz der Dienstjüngeren , sie nehmen sich ihre
Essensrationen, manchmal auch den Sold. Sie mißbrauchen sie als Arbeitssklaven,
mag der Job noch so sinnlos und demütigend sein, verleihen sie gegen Geld als
Fremdarbeiter an Firmen. Sie prügeln und vergewaltigen. Der Offizier von Ramil
Schamsutdinow soll seinen Untergebenen über Wochen vor seinen Kameraden
erniedrigt haben.
Der Staat
veröffentlicht keine Zahlen mehr
Infolge der
Wehrreform, die aus einer sowjetisch geprägten Massenarmee verschlankte, auf
Regionalkonflikte ausgerichtete Streitkräfte machen sollte, gilt
«Dedowschtschina» offiziell als «nahezu nicht mehr vorhanden». Der Kreml nennt
Fälle wie die von Soldat Schamsutdinow «Privatsache eines Einzelnen». Die
Reform habe die Fallzahlen verringert, bestätigen auch russische
Menschenrechtsorganisationen. Die Auswüchse der Armee-Hierarchie seien kein
Tabu mehr in der Gesellschaft, wie sie es noch zu Sowjetzeiten waren, auch gebe
es einige wenige Stellen, an die sich mißhandelte Soldaten wenden könnten, heißt
es bei den Soldatenmüttern, die seit den 1990er-Jahren die Missstände in der
russischen Armee offenlegen. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation «Das
Recht der Mutter» sterben in der russischen Armee etwa 2000 Soldaten, durch
«Dedowschtschina» genauso wie durch militärische Handlungen oder infolge
fehlender Medikamente und unzureichender Hygiene in den Kasernen. Das russische
Verteidigungsministerium veröffentlicht seit 2010 keine Statistiken der zu Tode
gekommenen Soldaten mehr.
Die Erziehung der
Jungen basiert in Rußland weiterhin auf der Vermittlung von Stärke. Viele junge
Männer, die die einjährige Dienstzeit als ein «verlorenes Jahr» betrachten,
fühlen sich den undurchsichtigen Regeln in der Armee hilflos ausgeliefert und
versuchen mit allen Mitteln, gar nicht erst eingezogen zu werden. Die Abneigung
gegen den Militärdienst ist groß. Einige zahlen Bestechungsgelder an
Militärbehörden oder verstecken sich. Zahlreiche Juristen bieten ihre Dienste
an, der Armee zu entkommen. «Legal», versichern sie.
Der Hackordnung
innerhalb der Streikkräfte, einem traditionell geschlossenen Raum, halten viele
Wehrdienstleistende nicht stand. Manche töten andere, manche sich selbst. Wie
kürzlich ein 21-Jähriger unweit von Moskau, der sich erhängt haben soll. Seine
Leiche ließen die Behörden mit einem überschminkten Gesicht übergeben,
darunter: Hämatome, Schürfwunden. Von «Mord durch Vorgesetzte» spricht nun die
Familie des Soldaten, und das Land diskutiert, warum «Dedowschtschina» nicht
auszurotten ist .
Inna Hartwich