2. April 2014
Putin zieht im Namen der
Russen in die Schlacht, doch er sammelt bloß Menschen, die sich in Diktaturen
wohlfühlen. Die russischen Bürger hat er selbst unsichtbar gemacht.
Schon einmal war ich
Berufsrusse. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als ich nach
Deutschland kam, richtete ich mich recht gemütlich in einer Nische auf dem
Medienmarkt ein. Ich war die junge, authentische russische Stimme, die die
alten Klischees über ihr Land widerlegte. Es ist Wladimir Putin zu verdanken,
daß ich wieder in meine alten, aus der Mode gekommenen Schuhe schlüpfen muß.
Der russische Präsident
will in die Ukraine einmarschiert sein, um dort die Russen zu schützen. Da
sehen sich viele russischsprachige Ukrainer verpflichtet, zu widersprechen: Wir
brauchen keinen Schutz! Auch in mir regt sich spontaner Protest, auch ich
brauche keinen Schutz von Putin. Denn ich bin nicht sein Russe. Aber genauso
wenig bin ich der Russe deutscher Rußlandliebhaber. Es ist ernüchternd zu
beobachten, wie dieser Tage der alte deutsche "Rußlandkomplex", den der
Historiker Gerd Koenen beschrieben hat, zur arglosen Akzeptanz für Putin ausartet.
Heute kann man nicht mehr
so einfach Russe sein, wie man Deutscher oder Südafrikaner ist. Die Russen haben
Pech. Ihr Problem ist, daß es sie nicht gibt. Es ist erstaunlich, mit welcher
Selbstverständlichkeit die deutsche Presse und Politik von den Russen in der
Ukraine oder in Lettland redet. Diese Angehörigen der russischsprachigen
Minderheiten von London bis Tel Aviv und Riga werden auch in der Kremlsprache
als "unsre Landsleute" zusammengefaßt. Viele von ihnen sehen sich
tatsächlich als Russen, andere aber auch als Juden, als Moldauer oder als
Tschetschenen.
Es ist zwar nicht bestreitbar,
daß die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion einiges gemeinsam haben, aber
bestimmt nicht ihr Blut oder ihre Sprache. Sie eint die gemeinsame Erfahrung
der Diktatur. Trotzdem greift der Kreml auf die simple Blut-und-Boden-Rhetorik
zurück, um den Anschluß der Krim zu rechtfertigen. "Ich vertraue darauf,
daß vor allem die Deutschen mich verstehen werden", sagte Putin in seiner
Annexionsrede. Und über die Hälfte der Deutschen hat ihm laut einer Umfrage unlängst das
erhoffte Verständnis entgegengebracht.
Normalerweise würde man
allein die Bürger der Russischen Föderation als Russen bezeichnen. Doch auch
diese Auslegung ist irreführend, da es dort keine richtigen Bürger gibt. Bürger
machen sich bemerkbar, und sie üben einen mehr oder minder starken Einfluß auf
die politischen Entscheidungsträger aus. Nicht so in Rußland. Die Bevölkerung
hat dort keinen Zugang zu fairen Wahlen, das System Putin trägt sich selbst und
ist nicht auf das Feedback der Bürger angewiesen. Der Staat hat den Bürger als
politisches Subjekt verschwinden lassen, wie das schon öfter in der russischen
Geschichte geschehen ist. Was der Russe also von der Politik wirklich will, ist
nicht feststellbar.
Umfragen untersuchen
Effekte der Gehirnwäsche
Auch auf dem Feld der
öffentlichen Meinung ist der Russe nicht mehr auszumachen. Die Propaganda der
gleichgeschalteten Medien läßt den Menschen keine Möglichkeit mehr, sich eine
eigene Meinung zu bilden. Die Meinungsumfragen untersuchen seit Jahren vor
allem die Effekte der Gehirnwäsche. Deswegen ergibt der Satz "Die Russen
wollen ihre Krim zurück" wenig Sinn.
Ändert sich die
Propaganda, ändern sich auch gleich die Ergebnisse von Meinungsumfragen. Die
öffentliche Meinung der Russen ist für die soziologische Forschung nicht meßbar,
weil es sie dort nicht mehr gibt. Der russische Staatsbürger ist unsichtbar
geworden, und unsichtbare Bürger gibt es nicht. Es gibt bloß unsichtbare
Untertanen.
Und das ist genau der
Mist, auf dem die Liebe vieler Deutscher zu Rußland gewachsen ist. Das große
Land im Osten muß als Projektionsfläche für deutsche Aversionen gegen die
marktwirtschaftliche Demokratie und die Nüchternheit des Rechtsstaats herhalten.
Die Romantiker sehen in Rußland ein besseres Deutschland, ein Traumland, das
sich nie dem Diktat der Siegermächte beugen mußte, das sich nie dem Konsumismus
hingab, das seiner völkischen Seele treu blieb. Und da ist noch dieser Führer,
der sich so souverän gibt und sogar Deutsch spricht. Es schaudert mir, wenn
meine Bekannten aus dem linken Bildungsbürgertum so willig auf Putins Linie einschwingen.
Ihre Liebe zu Rußland ist fast schon demonstrativ faschistoid.
Ähnlich wie in den
dreißiger Jahren, bewundern die Deutschen an den äußeren rechten und linken
Rändern der Gesellschaft den starken Führer im Osten. Für die einen ist Putin
ein Gegengewicht zu den unliebsamen USA. Sahra Wagenknecht von der Linken
verteidigte das Referendum über die Abspaltung der Krim, die schon vor der
Abstimmung militärisch besetzt war. Durch die Brille des Antiimperialismus
gesehen, fällt Putins Militarismus nicht ins Gewicht. Schließlich braucht es
eine militärische Supermacht, um Washington die Stirn zu bieten.
Am anderen Rand des
politischen Spektrums verbindet man mit Putin ebenfalls eine weltpolitische
Hoffnung. Man schwärmt von Putins "konservativer Revolution", ja man
bewundert Rußland sogar als Paten, der Preußen vor dem Untergang bewahrt haben
soll. Wenn man das im Thesenpapier der AfD liest, fragt man sich, ob für sie
die wahre Alternative für Deutschland nicht in Rußland liege. Rußland
verkörpert die starke Hand, die manch einer in der bürokratischen EU vermissen
mag. Der Kreml ist darüber hinaus ein Verbündeter im Wertekampf für Familie und
Identität, gegen die alle Unterschiede nivellierende Globalisierung.
Aber die treusten Rußlandversteher
liefert das deutsche Establishment. Industrielle, Lobbyisten und sogar ein
ehemaliger Bundeskanzler fordern
Nachsicht mit Putin. Wie Gerhard
Schröder erhalten sie meist Geld direkt oder indirekt vom Kreml. Wir brauchen
Putin, argumentieren sie, weil der Russe schlicht und einfach nicht fit für die
Demokratie ist. Der Russe ist eben anders. Er besitzt eine geheimnisvolle
Seele, er ist kein Individualist wie wir, hat keine partikularen Interessen und
braucht deswegen keine politische Vertretung. Der gute Russe ist in seiner
Seele frei und braucht kein kompliziertes Rechtsystem, das bei uns die
persönliche Freiheit des Bürgers sichert. Diese Rußlandliebhaber wollen ihre
guten Russen genau dort haben, wo auch Putin seine Russen haben will.
Wer protestiert, ist kein
richtiger Russe
Wladimir Putin, der im
Namen der Russen in den Krieg zieht, geht es jedoch weder um die ethnische
Angehörigkeit, noch um Sprache oder Herkunft. Putin sucht sich Menschen, die
sich in Diktaturen wohlfühlen oder sich nach welchen sehnen. Der Zerfall der
Sowjetunion ist für Putin "die größte geopolitische Katastrophe des 20.
Jahrhunderts", und alle Sowjetnostalgiker sind für ihn gute Russen. Auch
die Ostalgiker in Deutschland sind so gesehen Putins Russen. Die Klientelen der
Rechtspopulisten von Pat Buchanan bis Viktor Orbán sind Putins Russen. Wer aber
in Rußland für faire Wahlen auf die Straße geht, der ist kein richtiger Russe.
Wer eine Gewerkschaft gründet und sich gegen den russischen Turbo-Kapitalismus
zur Wehr setzt, ist kein guter Russe. Wer protestiert, wenn Beamtenkarossen
ungestraft Passanten überfahren, oder wenn Polizisten Menschen foltern, der ist
in der Logik der Autokratie kein richtiger Russe, mag er auch einen russischen
Paß in der Tasche haben.
Jede Art Realpolitik
gegenüber dem Kreml raubt diesen Menschen die Stimme. Zur Gewissensberuhigung
zeigen die deutschen Geheimdiplomaten den einen oder anderen Regimekritiker,
der wie
Chodorkowski nach Deutschland ausgeflogen wurde. Millionen Andere lassen sie im Stich. Der
russische Staat hat seine Kritiker nun offiziell zur "fünften
Kolonne" des Westens erklärt. Alle, die von der Kriegshysterie um die Krim
angeekelt sind, nennt Putin "Nationalverräter". Das klingt
erschreckend nach Stalins Verrätern und Volksfeinden. Putins deutsche
Unterstützer gehen nicht so weit, sie monieren lediglich ein "Rußland-Bashing".
Ein sentimentaler Despot
sucht seine Untertanen
Vor dem Tribunal dieser
Leute muß ich ein Geständnis ablegen. Ich betreibe seit über zwanzig Jahren Rußland-Bashing.
Mein schlimmstes Vergehen von heute aus gesehen ist, daß ich früher dem "Sowok"
alle Schuld gab. Zu Deutsch bedeutet "Sowok" eigentlich
Kehrschaufel, doch auch der Sowjetmensch wurde so bezeichnet. Diesem
autoritären Menschentyp habe ich pauschal alle Übel zugeschrieben, von
hinkenden Reformen bis hin zum Krieg gegen Tschetschenien. Ich gestehe, das war
rassistisch, mochte ich auch selbst in der Sowjetunion geboren sein.
Ich würde das scheußliche
Wort "Sowok" nie wieder in den Mund nehmen, doch es scheint
plötzlich eine neue Relevanz bekommen zu haben. Die Menschen in der Ukraine,
die unter Putins Fittiche schlüpfen wollen, werden mittlerweile wieder als
Kehrschaufeln beschimpft. Dies charakterisiert diese Leute natürlich nicht.
Dennoch gibt es etwas, was das alte Schimpfwort aufs Treffendste beschreibt:
das Objekt der großen Liebe Putins, und zugleich der deutschen Rußlandschwärmer.
Wenn Putin Russe sagt, meint er Kehrschaufel. Er meint den Sowjetmenschen, den
Überlebenden der größten Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts. Und wenn der
sentimentale Despot nicht so gefährlich wäre, könnte man das fast rührend
finden. Denn diesen abartigen Menschen, der ein geborener Untertan ist, diesen "Sowok",
der von Natur aus eine Diktatur braucht, den gibt es zum Glück nicht.
Boris Schumatsky
Der Autor
Boris Schumatsky ist in
Moskau aufgewachsen und lebt heute als Schriftsteller und Publizist in München.
Sein erstes Buch „Silvester bei Stalin“ erzählt die Geschichte seiner Familie
in der Zeit der russischen Revolution und des Stalin-Terrors. Sein gerade
abgeschlossener Roman hat die Wendezeit in Deutschland und Rußland zum Thema.