lördag 5 april 2014

Boris Schumatsky: „Die Russen gibt es nicht mehr“


2. April 2014

Putin zieht im Namen der Russen in die Schlacht, doch er sammelt bloß Menschen, die sich in Diktaturen wohlfühlen. Die russischen Bürger hat er selbst unsichtbar gemacht.

Schon einmal war ich Berufsrusse. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als ich nach Deutschland kam, richtete ich mich recht gemütlich in einer Nische auf dem Medienmarkt ein. Ich war die junge, authentische russische Stimme, die die alten Klischees über ihr Land widerlegte. Es ist Wladimir Putin zu verdanken, daß ich wieder in meine alten, aus der Mode gekommenen Schuhe schlüpfen muß.

Der russische Präsident will in die Ukraine einmarschiert sein, um dort die Russen zu schützen. Da sehen sich viele russischsprachige Ukrainer verpflichtet, zu widersprechen: Wir brauchen keinen Schutz! Auch in mir regt sich spontaner Protest, auch ich brauche keinen Schutz von Putin. Denn ich bin nicht sein Russe. Aber genauso wenig bin ich der Russe deutscher Rußlandliebhaber. Es ist ernüchternd zu beobachten, wie dieser Tage der alte deutsche "Rußlandkomplex", den der Historiker Gerd Koenen beschrieben hat, zur arglosen Akzeptanz für Putin ausartet.

Heute kann man nicht mehr so einfach Russe sein, wie man Deutscher oder Südafrikaner ist. Die Russen haben Pech. Ihr Problem ist, daß es sie nicht gibt. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die deutsche Presse und Politik von den Russen in der Ukraine oder in Lettland redet. Diese Angehörigen der russischsprachigen Minderheiten von London bis Tel Aviv und Riga werden auch in der Kremlsprache als "unsre Landsleute" zusammengefaßt. Viele von ihnen sehen sich tatsächlich als Russen, andere aber auch als Juden, als Moldauer oder als Tschetschenen.

Es ist zwar nicht bestreitbar, daß die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion einiges gemeinsam haben, aber bestimmt nicht ihr Blut oder ihre Sprache. Sie eint die gemeinsame Erfahrung der Diktatur. Trotzdem greift der Kreml auf die simple Blut-und-Boden-Rhetorik zurück, um den Anschluß der Krim zu rechtfertigen. "Ich vertraue darauf, daß vor allem die Deutschen mich verstehen werden", sagte Putin in seiner Annexionsrede. Und über die Hälfte der Deutschen hat ihm laut einer Umfrage unlängst das erhoffte Verständnis entgegengebracht.

Normalerweise würde man allein die Bürger der Russischen Föderation als Russen bezeichnen. Doch auch diese Auslegung ist irreführend, da es dort keine richtigen Bürger gibt. Bürger machen sich bemerkbar, und sie üben einen mehr oder minder starken Einfluß auf die politischen Entscheidungsträger aus. Nicht so in Rußland. Die Bevölkerung hat dort keinen Zugang zu fairen Wahlen, das System Putin trägt sich selbst und ist nicht auf das Feedback der Bürger angewiesen. Der Staat hat den Bürger als politisches Subjekt verschwinden lassen, wie das schon öfter in der russischen Geschichte geschehen ist. Was der Russe also von der Politik wirklich will, ist nicht feststellbar.

Umfragen untersuchen Effekte der Gehirnwäsche

Auch auf dem Feld der öffentlichen Meinung ist der Russe nicht mehr auszumachen. Die Propaganda der gleichgeschalteten Medien läßt den Menschen keine Möglichkeit mehr, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Meinungsumfragen untersuchen seit Jahren vor allem die Effekte der Gehirnwäsche. Deswegen ergibt der Satz "Die Russen wollen ihre Krim zurück" wenig Sinn.

Ändert sich die Propaganda, ändern sich auch gleich die Ergebnisse von Meinungsumfragen. Die öffentliche Meinung der Russen ist für die soziologische Forschung nicht meßbar, weil es sie dort nicht mehr gibt. Der russische Staatsbürger ist unsichtbar geworden, und unsichtbare Bürger gibt es nicht. Es gibt bloß unsichtbare Untertanen.

Und das ist genau der Mist, auf dem die Liebe vieler Deutscher zu Rußland gewachsen ist. Das große Land im Osten muß als Projektionsfläche für deutsche Aversionen gegen die marktwirtschaftliche Demokratie und die Nüchternheit des Rechtsstaats herhalten. Die Romantiker sehen in Rußland ein besseres Deutschland, ein Traumland, das sich nie dem Diktat der Siegermächte beugen mußte, das sich nie dem Konsumismus hingab, das seiner völkischen Seele treu blieb. Und da ist noch dieser Führer, der sich so souverän gibt und sogar Deutsch spricht. Es schaudert mir, wenn meine Bekannten aus dem linken Bildungsbürgertum so willig auf Putins Linie einschwingen. Ihre Liebe zu Rußland ist fast schon demonstrativ faschistoid.

Ähnlich wie in den dreißiger Jahren, bewundern die Deutschen an den äußeren rechten und linken Rändern der Gesellschaft den starken Führer im Osten. Für die einen ist Putin ein Gegengewicht zu den unliebsamen USA. Sahra Wagenknecht von der Linken verteidigte das Referendum über die Abspaltung der Krim, die schon vor der Abstimmung militärisch besetzt war. Durch die Brille des Antiimperialismus gesehen, fällt Putins Militarismus nicht ins Gewicht. Schließlich braucht es eine militärische Supermacht, um Washington die Stirn zu bieten.

Am anderen Rand des politischen Spektrums verbindet man mit Putin ebenfalls eine weltpolitische Hoffnung. Man schwärmt von Putins "konservativer Revolution", ja man bewundert Rußland sogar als Paten, der Preußen vor dem Untergang bewahrt haben soll. Wenn man das im Thesenpapier der AfD liest, fragt man sich, ob für sie die wahre Alternative für Deutschland nicht in Rußland liege. Rußland verkörpert die starke Hand, die manch einer in der bürokratischen EU vermissen mag. Der Kreml ist darüber hinaus ein Verbündeter im Wertekampf für Familie und Identität, gegen die alle Unterschiede nivellierende Globalisierung.

Aber die treusten Rußlandversteher liefert das deutsche Establishment. Industrielle, Lobbyisten und sogar ein ehemaliger Bundeskanzler fordern Nachsicht mit Putin. Wie Gerhard Schröder erhalten sie meist Geld direkt oder indirekt vom Kreml. Wir brauchen Putin, argumentieren sie, weil der Russe schlicht und einfach nicht fit für die Demokratie ist. Der Russe ist eben anders. Er besitzt eine geheimnisvolle Seele, er ist kein Individualist wie wir, hat keine partikularen Interessen und braucht deswegen keine politische Vertretung. Der gute Russe ist in seiner Seele frei und braucht kein kompliziertes Rechtsystem, das bei uns die persönliche Freiheit des Bürgers sichert. Diese Rußlandliebhaber wollen ihre guten Russen genau dort haben, wo auch Putin seine Russen haben will.

Wer protestiert, ist kein richtiger Russe

Wladimir Putin, der im Namen der Russen in den Krieg zieht, geht es jedoch weder um die ethnische Angehörigkeit, noch um Sprache oder Herkunft. Putin sucht sich Menschen, die sich in Diktaturen wohlfühlen oder sich nach welchen sehnen. Der Zerfall der Sowjetunion ist für Putin "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", und alle Sowjetnostalgiker sind für ihn gute Russen. Auch die Ostalgiker in Deutschland sind so gesehen Putins Russen. Die Klientelen der Rechtspopulisten von Pat Buchanan bis Viktor Orbán sind Putins Russen. Wer aber in Rußland für faire Wahlen auf die Straße geht, der ist kein richtiger Russe. Wer eine Gewerkschaft gründet und sich gegen den russischen Turbo-Kapitalismus zur Wehr setzt, ist kein guter Russe. Wer protestiert, wenn Beamtenkarossen ungestraft Passanten überfahren, oder wenn Polizisten Menschen foltern, der ist in der Logik der Autokratie kein richtiger Russe, mag er auch einen russischen Paß in der Tasche haben.

Jede Art Realpolitik gegenüber dem Kreml raubt diesen Menschen die Stimme. Zur Gewissensberuhigung zeigen die deutschen Geheimdiplomaten den einen oder anderen Regimekritiker, der wie Chodorkowski nach Deutschland ausgeflogen wurde. Millionen Andere lassen sie im Stich. Der russische Staat hat seine Kritiker nun offiziell zur "fünften Kolonne" des Westens erklärt. Alle, die von der Kriegshysterie um die Krim angeekelt sind, nennt Putin "Nationalverräter". Das klingt erschreckend nach Stalins Verrätern und Volksfeinden. Putins deutsche Unterstützer gehen nicht so weit, sie monieren lediglich ein "Rußland-Bashing".

Ein sentimentaler Despot sucht seine Untertanen

Vor dem Tribunal dieser Leute muß ich ein Geständnis ablegen. Ich betreibe seit über zwanzig Jahren Rußland-Bashing. Mein schlimmstes Vergehen von heute aus gesehen ist, daß ich früher dem "Sowok" alle Schuld gab. Zu Deutsch bedeutet "Sowok" eigentlich Kehrschaufel, doch auch der Sowjetmensch wurde so bezeichnet. Diesem autoritären Menschentyp habe ich pauschal alle Übel zugeschrieben, von hinkenden Reformen bis hin zum Krieg gegen Tschetschenien. Ich gestehe, das war rassistisch, mochte ich auch selbst in der Sowjetunion geboren sein.

Ich würde das scheußliche Wort "Sowok" nie wieder in den Mund nehmen, doch es scheint plötzlich eine neue Relevanz bekommen zu haben. Die Menschen in der Ukraine, die unter Putins Fittiche schlüpfen wollen, werden mittlerweile wieder als Kehrschaufeln beschimpft. Dies charakterisiert diese Leute natürlich nicht. Dennoch gibt es etwas, was das alte Schimpfwort aufs Treffendste beschreibt: das Objekt der großen Liebe Putins, und zugleich der deutschen Rußlandschwärmer. Wenn Putin Russe sagt, meint er Kehrschaufel. Er meint den Sowjetmenschen, den Überlebenden der größten Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts. Und wenn der sentimentale Despot nicht so gefährlich wäre, könnte man das fast rührend finden. Denn diesen abartigen Menschen, der ein geborener Untertan ist, diesen "Sowok", der von Natur aus eine Diktatur braucht, den gibt es zum Glück nicht.

Boris Schumatsky

Der Autor

Boris Schumatsky ist in Moskau aufgewachsen und lebt heute als Schriftsteller und Publizist in München. Sein erstes Buch „Silvester bei Stalin“ erzählt die Geschichte seiner Familie in der Zeit der russischen Revolution und des Stalin-Terrors. Sein gerade abgeschlossener Roman hat die Wendezeit in Deutschland und Rußland zum Thema.